Sieben von acht Fahrern des Teams „Israel Start-Up Nation“ schafften es heuer bis nach Paris. Reto Hollenstein ist der Zweite von links, der Dritte der oftmalige Tourheld der Tour de France (4 x), des Giro d‘Italia und der Vuelta a España Chris Froome / Foto: Hollenstein

Die besten Geschichten schreibt noch immer das Leben. Wie bei einem Radsportler, der von weither gekommen war und vor mehr als zwölf Jahren ein gar nicht so unbedeutendes Rennen in Bad Erlach gewann, mittlerweile fünf Starts bei der Tour de France absolviert hat und heute in der Buckligen Welt beheimatet ist.

Wie das so üblich ist, wurde Reto Hollenstein am Podium nach dem Radrennen in Bad Erlach von zwei Damen geküsst, die den Auftrag hatten, ihm Blumen zu überreichen (Bild oben rechts). Acht Jahre später führte er eine davon zum Standesamt. Funkstille gab es dazwischen nicht, wurde doch Söhnchen Livio geboren und ereignete sich auch sonst so manches, was einem bittersüßen Heimatfilm alle Ehre machen würde. Schwer zu sagen, ob es dabei Liebe auf den ersten Blick gewesen war. Facebook gab es schon damals und man blieb über dieses soziale Medium „in aller Freundschaft“ miteinander verbunden. Weil, so die damals blonde Dame heute ganz freimütig, ihr sportliche Männer schon immer gut gefallen hätten. Manchmal telefonierte man auch miteinander und wenn der Angebetete irgendwo in Österreich ein Rennen bestritt, war Patricia Bauer zur Stelle. Ein Moment blieb ihr besonders in Erinnerung: „2010 haben wir uns beim Leuchtturm in Podersdorf zum ersten Mal geküsst!“ Danach mussten beide in einer dreijährigen Fernbeziehung leben. Geheiratet wurde erst 2019 auf Schloss Wartholz bei Reichenau. Sohn Livio war schon 2017 zur Welt gekommen. Die männliche Hauptperson dieser Geschichte heißt Reto Hollenstein, kommt aus der Ostschweiz (Kanton Thurgau) und war, nachdem er – damals 24 Jahre alt und im ersten Profijahr – das Tchibo-Radrennen knapp vor der Österreich-Radrundfahrt 2009 in Bad Erlach gewann, als Radrennfahrer kein unbeschriebenes Blatt mehr. Später nahm der nunmehr 36-Jährige an allen drei großen Radrundfahrten (Tour de France, Giro d’Italia, Vuelta a España) teil und bestritt unzählige kleine Rundfahrten und Tagesrennen (darunter die großen Klassiker wie Paris-Roubaix, Flandern-Rundfahrt, Amstel Gold Race, Flèche Wallonne, Lüttich-Bastogne-Lüttich, Mailand-San Remo u. a.).

Familie drückt die Daumen

Die Qualen der Tour de France, dem bedeutendsten Radrennen der Welt, nahm er heuer bereits zum fünften Mal auf sich. Bei all diesen Rennen hat ihm die Bad Erlacherin Patricia Hollenstein, vormals Bauer, fest die Daumen gedrückt. Nicht immer von daheim in Bad Erlach, denn einige Male war sie auch vor Ort. So wie heuer im Juli beim Abschluss der Tour de France in Paris auf den Champs-Élysées, deren Tempo und faszinierende Atmosphäre sie von der Tribüne heuer schon zum dritten Mal genießen konnte.
Für den Schweizer, der seit dem Vorjahr für den israelitischen Radrennstall „Israel Start-Up Nation“ fährt, verlief die diesjährige Tour de France mit zwei schweren Stürzen sehr unglücklich. Trotzdem ist er seiner Aufgabe als Edeldomnestik nachgekommen: Von der achtköpfigen Mannschaft (darunter so bekannte Fahrer wie Chris Froome, Michael Woods, Daniel Martin, Sprinterass André Greipel, Rick Zabel) sahen immerhin sieben das Ziel in Paris. Lediglich der Kanadier Woods reiste früher nach Tokio wegen Olympia ab, wo er Rang 5 im Straßenrennen belegte.

Profi-Radrennsport ist international

Reto Hollenstein ist rund 200 Tage im Jahr unterwegs für Rennen und Teamcamps und sitzt fast täglich auf dem Sattel. Sein „Berufsjahr“ beginnt schon im Spätwinter mit Trainingsfahrten in Spanien bzw. auf Mallorca. Schon bald kommen aber die klassischen Eintagesrennen in Belgien, Holland, Frankreich, oder Italien, ehe er alles dafür tut, um für eine der großen Radrundfahrten einen Platz im Team zu ergattern. Etwa 30 andere Kollegen im eigenen Rennstall halten es genauso. Die Teams sind international ausgerichtet und werden sowohl aus sportlichen als auch aus politischen Gründen geformt. „Israel Start-Up Nation“ ist das beste Beispiel dafür: Das Team wurde von einem radsportbegeisterten Unternehmer im Jahr 2014 mit dem Ziel gegründet, den Radsport in Israel zu fördern. Die Lizenz als UCI WorldTeam (startberechtigt bei den großen Rennen) hat es erst seit dem Vorjahr und seitdem ist auch der Bad Erlacher dort dabei. Als er vor zwölf Jahren das Tchibo-Tagesrennen in seinem jetzigen Heimatort gewann, stand der 1,97 Meter große Athlet ein Jahr bereits im Profilager, war aber noch lange nicht in einem UCI WorldTeam. Er blieb noch bis 2011 im Team Vorarlberg-Corratec, kam dann über das Team NetApp zu IAM Cycling, für das er vier Jahre fuhr. Katusha-Alpecin war für die nächsten drei Jahre (2017–2019) seine sportliche Heimat und da fuhr er längst in der höchsten Liga. Überall wurde er der ihm zugedachten Rolle als Edelhelfer gerecht, denn auch solche braucht der Radsport.
Zu einem Etappensieg in der Tour de France oder einer anderen großen Tour hat es bisher leider nicht gereicht, obwohl dies sein größter Traum wäre. Aber: „Im Radsport geht nur der Sieger in die Annalen ein, der Zweite ist schon der erste Verlierer und wird vergessen“, bekennt der zweifache Vater freimütig. Reto Hollenstein hat sich relativ spät für den Radsport entschieden. Nach der Schulzeit begann er eine Elektromonteurlehre und erst zu dieser Zeit fiel die Entscheidung zwischen Radsport und Kunstturnen gefallen, lässt Reto seine Gedanken abschließend in die Vergangenheit schweifen.