Wenn sich plötzlich Türen öffnen …

Bei einer seiner Entdeckungstouren stieß Markus Steinbichler auf ein kleines Häuschen mitten im tiefen Wald des Wechsellandes. In dieses schlichte, unberührte und wunderschöne Gebäude hat er sich auf Anhieb verliebt. Einige Wochen und Zufälle später stand er mit den Besitzern und dem Schlüssel in der Hand wieder vor dem Haus mit dem Baujahr 1927. Diesmal, um die Atmosphäre der dort stillstehenden Zeit auf einigen Fotografien festzuhalten. Dabei erinnerte sich Steinbichler wieder einmal an „das einfache Leben zu Großmutters Zeiten“.

Denn genau so heißt auch ein Kapitel in Markus Steinbichlers Buch „Verloren in Raum und Zeit – Verborgene und vergessene Orte in der Buckligen Welt“ (erschienen im Verlag Scherz-Kogelbauer). Darin erinnert sich der Fotograf und Autor an das schlichte und einfache Leben in vergangenen Zeiten, als – ganz im Gegensatz zu unserer Zeit – ein bis zwei Räume als Zuhause und eine Handvoll Habseligkeiten als Besitz noch ausreichend waren: 

„Über viele Jahrhunderte hinweg lebten unsere Vorfahren in einfachsten, bescheidensten Verhältnissen. Für uns, die wir in unseren eigenen hochmodernen, mehr und mehr digitalisierten Eigenheimen sitzen, ist es nahezu unvorstellbar, dass die Menschen so lange Zeit mit so viel weniger auskamen. Beinahe ebenso verwunderlich ist es, dass diese Zeit noch gar nicht allzu lange her ist. Und doch haben unsere Großeltern und Urgroßeltern – oft im gleichen Haus, am gleichen Ort, an gleicher Stelle wie heute wir – so völlig anders gelebt. Die Größe eines Zimmers war vor 30, 40 Jahren mitunter noch die Größe einer Wohnung. Ein kleiner Zimmerofen reichte zur Heizung, eine Handvoll Möbel genügte, ein Waschbecken zur Körperpflege war für lange Zeit ausreichend. Später kamen knisternde Radiogeräte und klobige Röhrenfernseher mit Zimmerantenne hinzu – und wirkten prompt als deplatzierte Vorboten einer neuen Zeit in dieser alten Stube …

Die Wohnungen der Großeltern waren oft in kleinen alten Bauernhäusern zu finden. Entweder im niedrigsten, ältesten Trakt der typischen, über Generationen gewachsenen Dreiseithöfe. Oder im sogenannten „Ausnahmstübl“ oder Ausgedinge, dem eigenen kleinen, in der Nähe des Hofes erbauten Wohnsitz der „Altbauern“. 

Einfaches Leben in einfachen Räumlichkeiten

Hin und wieder begegnet man solchen typischen bescheidenen und aus der Zeit gefallenen „Großeltern-Wohnungen“ auch heute noch. Und vielleicht steigen dann Erinnerungen aus Kindertagen auf, in denen sich an kalten Winterabenden Zeit für den Besuch in einer solchen Wohnung fand: Das kleine alte Haus mit seinen wenigen Fenstern und dem qualmenden Rauchfang war so unscheinbar im Vergleich zu allen anderen – kaum vorstellbar, dass hierin tatsächlich jemand wohnte. Durch eine niedrige Türe gelangte man in einen schmalen Gang. Von dort führte eine steile, enge Holzstiege auf einen Dachboden voller seltsamem Gerümpel, unlesbarer Schulhefte und unbrauchbar gewordener Gerätschaften. Eine völlig fremde, völlig andere Welt für staunende Kinderaugen, die hier – mehr oder weniger erlaubterweise – auf Entdeckungsreise gingen. Die Tür neben der Treppe hingegen lud mit gedämpftem Licht hinter vorhangverhangenen Glasscheiben zum Eintreten ein. 

Seltsam anders – und faszinierend zugleich

In der gut geheizten Stube glühte der Sparherd, auf dem Tee oder Milch gekocht wurde, darüber hingen blecherne oder emaillierte Siebe und Schöpflöffel an der Wand, lagen Schneebesen und selbstgeschnitzte Quirle aus Baumwipfeln. Auf der harten Eckbank drängte sich die Familie rund um einen kleinen Tisch – für Großmutter oder -vater aber war der eine bequeme gute Sessel reserviert. Egal ob Milchhäferl, Weingläser, Korkenzieher oder anderes Haushaltsgerät: Alles war seltsam anders, veraltet, da und dort abgeschlagen, manchmal matt geworden – aber dennoch irgendwie faszinierender als die bekannten Gegenstände zu Hause. Waren die Dinge auf dem karierten Tischtusch langweilig geworden, wurde ein besonderes Schauspiel hinter den gekrümmten Rücken der Erwachsenen interessant: Ein Vorhang aus grobem, kratzigem Stoff versteckte die alten Kastenfenster wie seltsame Glasvitrinen. Auf dem zerbrechlich wirkenden Fensterflügel trieb ein heute so gut wie ausgestorbenes Phänomen seine fantastischen Blüten: Schillernde Eisblumen in magischen Formen nahmen die Sicht auf eine im Dunkeln liegende andere Welt draußen vor dem alten Haus. 

Eisige Schlafzimmer und bucklige Matratzen

Wurde es zu besonderen Anlässen, zum Oster- oder Weihnachtsfest einmal später, öffnete sich für müde Kinder ausnahmsweise eine sonst verschlossene Tür. Jene zum Schlafzimmer, der Gegenwelt zur überfüllten, überhitzten Stube nebenan: eiskalt, weil ungeheizt, kaum möbliert – ein einzelner Kasten, selbst der nur halbvoll: bunte Kittelschürzen, zwei, drei Strickwesten, ein Stapel mit fein säuberlich zusammengelegten Kopftüchern, die zu jeder Tages- und Jahreszeit (außer beim Schlafen) getragen wurden. Nur ein riesiges hohes Doppelbett, dessen Holz ungewohnt glänzend lackiert war. Darüber das riesige Bild einer betenden Maria, von der man trotz zum Himmel gerichteter Augen immer irgendwie beobachtet wurde. 

Im Bett selbst bucklige Federkernmatratzen, die bei der kleinsten Bewegung seltsame Geräusche von sich gaben. Darüber eine halbmeterhohe Tuchent, die schwer wie eine Schneedecke auf einem lastete. Auf dem Nachtkästchen daneben ein laut tickender blecherner Wecker, der – hatte man neugierig und mit klammen Fingern an den kleinen Rädchen hantiert – einen Höllenlärm von sich gab! Jäh aufgeweckt, zurück im Hier und Jetzt klingen diese Erinnerungen an das einfache Leben zu Großmutters Zeit nur noch nach wie ein ferner Traum.“

Fotos (8): Markus Steinbichler

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